Zentrale Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag Darsberg

Ortsbeirat Darsberg

Zentrale Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag in Darsberg

Dies war ein Herbsttag, wie man bisher noch keinen sah. Überall wurden am vergangenen Sonntag Wärmerekorde aufgestellt und so hatten auch zahlreiche Besucherinnen und Besucher der zentralen Gedenkveranstaltung in Darsberg eher Frühlings-Gefühle als November-Stimmung. Was der Ernsthaftigkeit des Gedenkens allerdings keinen Abbruch tat. Nachdem in Neckarsteinach sowie in den Stadtteilen Grein und Neckarhausen an den Ehrenmälern jeweils ein Kranz niedergelegt worden war trafen sich zahlreiche Neckarsteinacherinnen und Neckarsteinacher, v.a. die Feuerwehren aus allen Stadtteilen, Vertreter der städtischen Gremien und der Ortsbeiräte wie auch von Vereinen auf dem Darsberger Friedhof zur zentralen Gedenkveranstaltung.

Sie alle hieß Ortsvorsteher Ralf Edelmann herzlich willkommen. Er wies darauf hin, dass es für den Ortsbeirat Darsberg stets ein Anliegen war, diesen Tag der allgemeinen Trauer aber auch der Mahnung gemeinsam in würdiger Erinnerung zu begehen. Es erfülle die Darsberger mit Dankbarkeit, dass dies in Darsberg bereits zum zweiten Mal im Rahmen einer zentralen Gedenkfeier begangen werde. Es sei Ehre und Verpflichtung zugleich, als Mitgestalter der Veranstaltung einen würdigen Beitrag in Form eines Darsberger Projektchores zu leisten. Daher gelte sein besonderer Dank dem Chor der Neuapostolischen Kirchengemeinde Darsberg, dem Männergesangverein Heimatland Darsberg, ihren beiden Leitern, Herrn Simon Gramlich und Herrn Wolfgang Mohn, sowie allen Sängerinnen und Sängern, die sich ohne Zögern bereit erklärt hatten, hierzu ihre musikalische Kompetenz einzubringen. Sein Dank galt weiterhin dem Evangelischen Bläserchor für die musikalische Umrahmung der Feierstunde als auch der Evangelischen Kirchengemeinde in Vertretung von Pfarrerin Marion Rink für die konstruktive Zusammenarbeit im Vorfeld der Veranstaltung.

In seiner Ansprache berichtete Ortsvorsteher Edelmann von einem Erzählnachmittag vor drei Jahren bei dem auf eindrückliche Weise Zeitzeugen von Ihren persönlichen Erfahrungen aus dieser Schreckenszeit berichteten. Anlass für diesen Erzählnachmittag bildeten die anlässlich des Volkstrauertages 2006 seitens der Konfirmanden aufgeworfenen Fragen, die in ihrer Komplexität sowie emotionalen Vielschichtigkeit direkt nicht beantwortet werden konnten, die es aber Wert waren, beantwortet zu werden. Ob es sich bei den persönlichen Erlebnissen um den Verlust eines oder mehrerer Angehöriger, um leidvolle Erfahrungen der Vertreibung oder um sonstige Exzesse der damaligen Schreckensherrschaft handelte: Jedes einzelne der im Rahmen des Erzählnachmittages geschilderten Schicksale war und ist Ausdruck unermesslichen Leides und der Trauer. Die Erinnerung an die Vergangenheit sei der Garant dafür, dass mit Tatkraft und Zuversicht die Zukunft für uns selbst als auch für kommende Generationen gewonnen werden könne. Der Generationen übergreifende Dialog im Rahmen des Darsberger Erzählnachmittages im Jahre 2007 war ein erster Schritt. Weitere müssten folgen.

Um das Leid und den Schrecken, die der 2. Weltkrieg auch nach Darsberg gebracht haben, in seiner ganz intimen Eindrücklichkeit für uns alle erlebbar und nachempfindbar zu machen, werde nun Torben Krieger auszugsweise aus dem letzten Brief eines im Jahre 1944 vermissten Darsbergers an seine Angehörigen zitieren. Es werde das Leid und die Trauer der Daheimgebliebenen deutlich, aber auch die allgegenwärtige Angst um das eigene Leben sowie die körperliche Unversehrtheit des Soldaten. Verinnerlichen wir aber auch den Tatbestand, so Ralf Edelmann, dass der Verfasser des Briefes kaum älter war, als Torben heute.

Bürgermeister Eberhard Petri erinnerte in seiner Ansprache an die unendlich große Zahl an Kriegsgräberstätten, in fast jeder deutschen Stadt, aber auch in vielen Städten Europas und der Welt. Überall erinnerten sie an Soldaten, aber auch Frauen, Männer und Kinder aus der Zivilbevölkerung, die der Gewalt zum Opfer fielen. Fast zehn Millionen Menschen im Ersten, weit mehr als fünfzig Millionen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges und seitdem jährlich viele weitere Millionen Menschen in Hunderten Konflikten seien zu beklagen. Die Summen überstiegen das Vorstellungsvermögen, und doch stünden hinter diesen Zahlen einzelne Menschen, die alle unverwechselbar waren, mit ihrer Stimme und ihrem Lachen. Uns näher, nachvollziehbarer würden die Toten dann, wenn hinter den Zahlen ein Gesicht sichtbar werde. Und deshalb berühre ein Brief eines Sechzehnjährigen, wie er von Torben Krieger vorgelesen wurde, auch wenn er über 65 Jahre alt sei, mehr, als jede Meldung über Katastrophen in entfernten Erdteilen von heute. Bürgermeister Petri erinnerte in seiner Ansprache auch an den schweren Luftangriff der deutschen Luftwaffe auf die englische Stadt Coventry vor 70 Jahren, in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940.

Pfarrerin Marion Rink stellte „Verantwortung tragen“ in den Mittelpunkt ihrer Ansprache. Sie knüpfte dabei an einem Lied an, das der Projektchor vorgetragen hatte: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag…“. Und sie stellte die Frage, ob dies nicht ein wenig zu einfach, zu schön klinge? Das Leben so vieler Menschen wurde und wird durch Kriege und Terror beschädigt, zerstört, ausgelöscht. Wie kann man da an „gute Mächte“ glauben? Wie kann man von „wunderbarer Geborgenheit“ singen? Solch ein Lied – es wäre beim Gedenken an so viele furchtbare Schicksale völlig fehl am Platze, wenn es nicht aus der Feder eines Gefangenen stammte. Dietrich Bonhoeffer hat die Strophen an Silvester 1944 geschrieben. Zu der Zeit hatte er eineinhalb Jahre Haft in der Militärabteilung des Gefängnisses Berlin-Tegel hinter sich. Als evangelischer Theologe war er zutiefst davon überzeugt, dass es geboten sei, sich dem nationalsozialistischen Regime entgegen zu stellen, bis hin zu einem Attentat auf Hitler, das Freunde von ihm am 20. Juli 1944 versucht hatten und das gescheitert war. Dietrich Bonhoeffer lebte, was er glaubte: Dass wir Menschen Verantwortung haben. Eine Verantwortung, die man nicht an andere abgeben oder gar Gott übertragen kann.

An Silvester 1944 und davor wird Bonhoeffer in einem Konzentrationslager gefangen gehalten. Wenn er zu dieser Zeit von der Erfahrung schreibt, von guten Mächten wunderbar geborgen zu sein, getrost erwarten zu können, was kommen mag, dann ist das nicht einfach schön daher gesagt. Dann spiegelt dieses Lied eine Glaubenserfahrung, die sich mit Worten kaum beschreiben lässt: Innere Geborgenheit trotz äußerer Bedrohung. Innere Freiheit und Überlegenheit des Geistes trotz äußerer Gefangenschaft. Innere Verbindung mit denen, mit denen er sich im Geiste tief verbunden weiß trotz der äußeren Trennung.

Zu diesem Lied, das von großer Tiefe zeugt, passt für mich der Altar des Frauenklosters auf dem Schwanberg in der Nähe von Würzburg, das ich öfter im Jahr besuche. Engel tragen den schweren Altarstein, der an furchtbares Elend erinnert, denn er stammt aus dem Steinbruch des Konzentrationslagers Flossenbürg, in dem Bonhoeffer starb. Diese schwere Last der Schuld, diese Last der Erinnerung daran, was Menschen Menschen antun können, wird in jener Klosterkirche, die im Jahr von mehr als 90.000.00 Menschen besucht wird, von Engel gehalten. Um den Altar mit dem Stein, der an menschliche Grausamkeit und viele Tränen und Schmerzen erinnert, versammeln sich immer wieder Menschen, die unterschiedlich alt sind, unterschiedlich geprägt. Da stehen Zweifelnde neben Glaubenden, politisch links orientierte neben eher rechts Denkenden oder solchen, die sich zur politischen Mitte zählen. Wer wohin gehört, das wird nicht gefragt. Entscheidend an diesem Tisch ist, dass die, die da stehen, vor der eigenen Mitverantwortung nicht die Augen verschließen. „Hätte ich es damals besser gemacht als meine Vorfahren? Wäre ich mutiger als sie gewesen?“ An diesem Tisch verbietet sich jede Überheblichkeit. Wer sich um solch einen Tisch versammelt, kann die Augen nicht verschließen vor der eigenen Mitverantwortung und Schuld. Und dann wird das Brot geteilt und der Wein, an diesem Tisch. „Für dich gegeben. Für dich vergossen. Geh in Frieden.“ An diesem Tisch, den Engel tragen, ist spürbar: Diese Worte sind kein Freibrief. Aber sie sind ein Freispruch.

So wie es Dietrich Bonhoeffer einmal in seinen Glaubenssätzen formulierte: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

Am 9. April 1945, einen Monat vor Kriegsende, wurde der christliche Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg erhängt. Er hatte sich und anderen ganz sicherlich die Freiheit gewünscht. Und doch hat er in seinem Silvesterlied, das der Projektchor eben gesungen hat, auch diese letzte und äußerste Konsequenz seines Widerstands gegen den Wahn, der ihn umgab, ins Auge gefasst. Ich schließe mit dem Schluss seiner Überlegungen zu der Frage „Sind wir noch brauchbar?“: „Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen.“ Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, dass wir den Weg zur Schlichtheit und Gradheit wiederfinden? Amen.

Eberhard Petri
Bürgermeister

(Veröffentlicht im Mitteilungsblatt der Stadt Neckarsteinach, Ausgabe 46 vom 18. November 2010)